
Ella SCHEER
Ella hat den zweiten Platz in unserem Schreibwettbewerb "New Year is beginning" belegt.
Sie ist Autorin und angehende Ghostwriterin.
Anita
von Ella SCHEER
Seit einem Jahr gehörte Anita zur Familie von Leo und seinem Schwager Max, die zusammen mit ihren Frauen und Kindern ein Doppelhaus am Land bewohnten. Sie hatten sich gemeinsam für ihre neue Haushaltshilfe entschieden und teilten sich die Kosten.
Anita kümmerte sich um alles, wofür die berufstätigen und vielbeschäftigten Bewohner keine Zeit hatten oder haben wollten: Sie erledigte Einkäufe, organisierte Sport- und Musikstunden, half den Kinder bei den Hausaufgaben, sorgte für einen vollen Kühlschrank und leere Mülltonnen, dachte rechtzeitig an den Lottoschein, kannte die besten Kuchenrezepte, verwaltete alle Termine, fand für jeden Bedarf die richtige Sendung und die passende Musik, machte die Buchhaltung, animierte zu regelmäßigen Trainingseinheiten und überwachte die individuellen Fortschritte, berücksichtigte Diätvorschriften im Speiseplan, erledigte den Behördenkram und kümmerte sich um den regelmäßigen Hausputz ebenso wie um die Urlaubsplanung, vergaß keinen Geburtstag, hatte einen grünen Daumen und wusste auf die meisten Fragen eine hilfreiche Antwort. Sie machte ihre Sache gut. Neuerdings etwas zu gut, wie die Herren der Familie insgeheim fanden.
Als am Silvesterabend Frauen und Kinder ausrückten, um sich in der kleinen Bezirksstadt das große Feuerwerk anzusehen, blieben Leo und Max zu Hause. Ihre Gattinnen gaben sich mit der Erklärung zufrieden, Anita hätte für sie eine Sportübertragung ausfindig gemacht, die sie nicht verpassen wollten. Tatsächlich hatten sie Wichtigeres zu tun – sie mussten sich um Anita kümmern.
Ihrer Haushaltshilfe war nicht entgangen, dass Max klammheimlich eine Hypothek auf das Haus hatte aufnehmen müssen, weil er sich an der Börse verspekuliert hatte. Um ein Haar wäre bereits alles aufgeflogen. Daher hatte er Leo eingeweiht und ihm offenbart, wie er das Problem zu lösen gedachte. Anita wusste zu viel, sie musste dringend verschwinden. Leo hatte selber gute Gründe einverstanden zu sein – für seinen erotischen Ausrutscher mit der Staubsauger-Vertreterin schämte er sich in Grund und Boden, seine Frau durfte niemals davon erfahren. Sie hatten beschlossen, Anita zur Geheimhaltung zu verpflichten, doch diese weigerte sich beharrlich. Als ob ausgerechnet sie das Recht hätte, sich ihnen moralisch überlegen zu fühlen.
Es war Zeit zu handeln. Max holte den Vorschlaghammer aus der Werkstatt. Dann ging alles ganz schnell. Anita war im Wohnzimmer. Leo näherte sich ihr im toten Winkel und stieß sie zu Boden. Bevor sie Alarm schlagen konnte, schwang Max den Hammer und schlug zweimal kräftig zu. Leo konnte kaum hinsehen. Er war seinem Schwager dankbar dafür, die Drecksarbeit zu übernehmen.
Sie betrachteten ihr Werk mit einer Mischung aus Befriedigung und Abscheu. „Schöne Sauerei, sieht nicht grade wie ein Unfall aus“, gab Leo zu bedenken. Also kippten sie das antike Bücherregal über sie. Anita, oder das, was von ihr übrig war, wurde unter einer Lawine aus schweren Brettern und dicken Büchern begraben. Abgesehen von ein paar Silvesterkrachern irgendwo in der kalten Winternacht herrschte Totenstille. „Und was erzählen wir den anderen?“ – „Alkoholbedingtes Versehen. Die Wohnzimmereinrichtung konnte ich ohnehin noch nie leiden. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen und dann trinken wir auf unsere Freiheit!“
Als die Frauen nach ihrer Rückkehr einen Blick ins Wohnzimmer warfen, stockte ihnen der Atem. Sie schlossen die Tür, schickten die Kinder ins Bett und fanden ihre stockbesoffenen Männer schnarchend im Weinkeller. Weswegen auch immer sie sich dermaßen in die Haare gekriegt hatten, es hatte sich offenbar wieder eingerenkt.
Mit vereinten Kräften hoben sie das Bücherregal an und bargen, was von Anita übrig war. Das Aufräumen des restlichen Desasters würden sie ihren Männern überlassen. Sie fühlten Wehmut, aber auch Erleichterung. In letzter Zeit hatte sie das Gefühl beschlichen, dass Anita zunehmend die Kontrolle über ihr Familienleben übernahm. Zunächst schien es eine gute Idee zu sein, ihre Männer von ihr auszuspionieren zu lassen, doch in letzter Zeit war Anita immer öfter durch Fragen und Schlussfolgerungen aufgefallen, die sie ihr nicht zugetraut hatten. Annas Verluste im Casino würden sich in der Haushalts-Buchhaltung nicht gut machen und die häufigen Besuche des Aushilfspostlers bei Mia waren der scharfen Beobachterin auch nicht entgangen. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis alles ans Licht kam.
Eine selbstlernende künstliche Intelligenz war eine praktische Errungenschaft, aber irgendwo hörte der Spaß auf. Nun waren nichts als Drähte, Schaltkreise und Plastikscherben von ihrem „Artificial Neuron-Integrated Technical Assistant“ übrig geblieben. Sie entsorgten den allwissenden Blechhaufen in der schwarzen Tonne, bevor ihre Kinder auf die Idee kamen, den Speicher auszubauen – ihre Familiengeheimnisse waren in der Schrottpresse besser aufgehoben. Es würde schwer werden, Anita zu ersetzen, doch nun konnten sie ohne Altlasten ins neue Jahr starten und endlich das Wohnzimmer neu einrichten.