Erster Platz: Veränderungen – eine Geschichte von Katharina Levashova
Katharina LEVASHOVA
Katharina hat den ersten Platz in unserem Schreibwettbewerb "New Year is beginning" belegt.
Sie schreibt
* Kurzgeschichten
* Lyrik, Prosa
* ... und gerade an ihrem ersten Roman
Foto ©konstantinmikulitsch
Veränderungen
von Katharina LEVASHOVA
Tief schnitten die Träger des schweren Rucksacks Striemen in die Haut über den knochigen Schultern. Die kristallklare Luft fühlte sich schneidend an, roch nach blauem Himmel, reinem Wasser und Nadelwald. Es war die Zeit nach Weihnachten, welche diesen besonderen Zauber des Neuanfangs innehat. Helena schüttelte eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht. Stoßweise bildeten sich kleine Atemwölkchen. „Komm, Balduin. Komm. Es ist nicht mehr weit.“
Der alte Schäferhund tat sich sichtlich schwer, Schritt zu halten. Seine Herrin war gut beraten, ihn die nächsten Tage in der warmen Hütte zu belassen. Für seine alten Knochen war der eingebrochene Winter eine Qual. Bald würde es noch kälter werden. Die ersten Monate des Jahres, bevor der Frühling erste Boten durch die harte Erde treibt, sind die härtesten. So intensiv, dass Helenas Atem in Eiskristallen bis zum Grund fallen würde, nachdem er ihren Mund verlassen hatte. Umso mehr war sie angetrieben, Vorräte aufzustocken. Ihr Rucksack war voll mit Tannenreisig, ein paar letzten Schlehenbeeren, Mispeln und Pilzen.
Wer überleben wollte, musste findig sein. Sie hatte bereits als Kind von ihrem Großvater gelernt, wie die Natur die Menschen über das ganze Jahr hinweg versorgt. Im Wald konnte sie zu jederzeit essbare Pilze und Pflanzen finden, wenn der Winter die Suche auch erschwerte. Helena lächelte. „Euch Schätzchen werde ich zu einer herzhaften Suppe verkochen“, flüsterte sie den Samtfußrüblingen im Rucksack zu. „Ihr macht mich satt und stärkt mein Immunsystem.“ Just in diesem Moment musste sie dreimal laut niesen. Helena wischt ihre Nase mit dem Jackenärmel trocken. „Sieht aus, als könnte ich das gut brauchen.“
Unermüdlich stapfte sie weiter. Nur ab nach Hause. Balduin sah sich nicht mehr nach ihr um, er steuerte zielstrebig los. Helenas rechte Hand zog den Schlitten mit Feuerholz. Eine behelfsmäßige Konstruktion, die ihren Zweck erfüllte. Der Gedanke an das knisternde Kaminfeuer zauberte trotz der Anstrengung erneut ein Lächeln auf ihr Gesicht. Die Aussicht auf Wärme schien auch Balduin neuen Schwung zu geben. Seit die beiden Gefährten den Wald hinter sich gelassen hatten und ihr zu Hause in Sichtweite gerückt war, legte er an Tempo zu. Guter Junge, dachte Helena bei sich. Und ich dachte schon, er müsste die letzten Meter auf dem Schlitten zurücklegen.
Seit dem letzten Krieg, der nach Jahren über die Energiekrise zum totalen Zusammenbruch der Weltwirtschaft und letztendlich zum Blackout geführt hatte, führte Helena ein Leben in der Abgeschiedenheit. Sie hatte sich arrangiert. Sammelte Kräuter, hegte ihren kleinen Bauerngarten, durchstreifte täglich den Wald. Lebte. Dennoch, das neue Jahr würde Wendungen mit sich bringen, gewollt oder auch nicht. Ihr müder Blick fokussierte das kleine Heim. Rauch stieg aus dem steinernen Kamin auf. Helena legte die Stirn in Falten. Das Feuer im Ofen müsste längst erloschen sein. Hinter den doppelflügeligen Sprossenfenstern schien flackerndes Licht. Ihr Herz setzte einen gefühlten Moment lang aus. Hitze stieg ihr unvermittelt ins Gesicht. „Das ist nicht möglich!“, hauchte sie.
Ein Pochen im Brustkorb, die Kehle war wie zugeschnürt. Balduin war nicht mehr zu halten und trabte so schnell er konnte mit wackelnder Hüfte zum Haus. Trotz der schweren Last flog Helena die letzten zweihundert Meter über den festen Boden. Mit eisklammen Fingern, roten Backen und wirrem Haar stieß sie die hölzerne Tür auf.
Ein kuscheliges Feuer knisterte im offenen Kamin. Im Kessel dampfte Tee. Als ob er niemals weg gewesen wäre, lehnte Devin am Tresen. Balduin schwänzelte bereits um seine Füße. Er hielt eine Tasse in der einen Hand, mit der anderen tätschelte er den Kopf des alten Hundes. „Hi Babe“, strahlte er Helena an. Das war zu viel, selbst für Helenas kämpferisches Gemüt. Eine warme Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange, als sie auf ihn zuging. Er war zu ihr zurückgekommen!
Bis Devin und Helena sich endlich voneinander lösten, schnarchte Balduin bereits auf der dicken Decke vor dem wärmenden Kaminfeuer. „Was machst du nur hier?“, hauchte Helena ihm vorsichtig ins Ohr. Stotternd setzte sie nach: „Ich dachte nicht, dass du zu mir zurückkommst. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.“ Langsam löste er sich aus ihrer Umarmung, um in ihre feuchten Augen sehen zu können. „Keine Ahnung, ob ich hierbleiben kann, in diesem Nirgendwo. Jedoch wollte ich unbedingt zurück zu dir. Das neue Jahr will ich mit dir beginnen und mit keiner anderen.“ Als er sanft seine Lippen auf die ihren legte, wischte Helena ihre Sorgen für einen Moment beiseite. Ich werde ihm vielleicht später sagen, dass ich schwanger bin.
„Okay“, murmelte sie in ihn hinein, „Neues Jahr. Neues Glück.“