Sonderauszeichnung: Komm, flieg schwarzer Vogel von Martina Hutter

Martina HUTTER

Martina HUTTER

Martina hat den Sonderpreis gewonnen. Ihre Geschichte wurde ein bisschen ;-) zu lang. Dennoch haben wir beschlossen, sie euch nicht vorzuenthalten.
Martina ist Autorin und angehende Ghostwriterin.

Komm, flieg schwarzer Vogel

Die Angst fraß sich fest in mich hinein.
Wird es weh tun?
Kämpft man mit dem Teufel? Oder nur mit seinen eigenen Dämonen? Ach, wenn es nur das ist, damit habe ich nun lange genug Übung.
Gebt mir den Himmel, damit kenne ich mich nicht aus, die Hölle erlebe ich seit Wochen.

Drei habe ich noch vor mir. Ich hoffe, ich kann sie noch einnehmen, ich merke, wie ich in einen Dämmerschlaf falle. Es ist gar nicht einfach, als Laie herauszufinden, wie viele Tabletten notwendig sind, um sicher zu sterben. Darum wollte ich mich nicht auf die Tabletten verlassen, sondern besser aus dem Leben fallen. Wie vom Himmel. Oder aus der Hölle wohl eher.

Unbedingt wollte ich sie einzeln und nicht in einem Todescocktail zu mir nehmen. Die letzten Minuten oder Stunden sollte ich all mein Leid und mein Versagen spüren können. Die finale Bestrafung, wenn ich mich schon so feige aus dem Leben schleichen würde.

Mir wurde kalt. Eine noch, dann war es geschafft.

Ich fiel in einen Traum und durchlebte meinen persönlichen Horror noch einmal. Nur, dass es kein Alptraum war, sondern meine Lebensgeschichte. Mein eigenhändig gemachter Thriller. Gott, wie ich mich hasste. Vor allem jetzt, weil ich mein leidvolles Leben nicht mehr ertragen wollte, sondern vor meinen Dämonen weglief.

Wie alles anfing

Es fing alles so romantisch und verspielt an. Konrad, mein Mann,  war ein erfolgreicher Abteilungsleiter und Fachmann in seinem Gebiet. Hals über Kopf hatten wir uns verliebt, als wir einander auf einer Firmenfeier vorgestellt wurden. Wir zogen bald zusammen und nur zwei Jahre später wurde geheiratet.

Sebastian erblickte im Sommer darauf das Licht der Welt und Tamara machte unser Glück im Herbst drei Jahre später perfekt. Wir entschieden, dass ich die ersten Jahre zu Hause bleiben und mich ganz unseren Kindern widmen sollte. Konrad verdiente ausreichend, sodass dies ein paar Jahre möglich wäre. Ich genoss die Stunden mit unseren Kindern und konnte mir anfangs gar nicht vorstellen, irgendwann auf die Zeit mit ihnen zu verzichten.

Schließlich wurde mein Junge vier Jahre alt und ich musste feststellen, dass ihm, wie auch mir, die Decke auf den Kopf zu fallen begann. Ich hatte zu lange auf den Austausch mit meinen Freundinnen verzichtet und auch meinem Sohn würde der Kontakt mit anderen Kindern guttun. Außerdem bemerkte ich, dass Tamara ihn oft nervte, wenn sie seine Burgen zerstörte oder Zeichnungen zerknitterte. Immer häufiger weinte Tamara auch, wenn sie beisammen waren. Sie spielten nicht mehr so beseelt miteinander wie früher.

Also entschied ich mich, ihn in den städtischen Kindergarten zu schicken. Auch für mich war die frei gewordene Zeit angenehm, wobei ich sie großteils mit meinem Mädchen verbrachte. Sebastian blühte im Kindergarten auf und war ein aufgewecktes, fröhliches Kind.

So hätte es wunderbar weitergehen können, hätte ich nicht irgendwann eine Sehnsucht in mir verspürt. Sebastian wurde eigenständig und auch seine Schwester war kein Baby mir. Die Zeit hatte mich etwas einsam gemacht und ich fühlte mich auf der Suche nach einer neuen Aufgabe.

Diese sollte ich schon bald finden, denn mein früherer Chef rief mich unverhofft an und fragte unverblümt, ob ich mir wieder vorstellen könne, ins Geschäft einzusteigen. Vor meiner Schwangerschaft war ich eine enge Mitarbeiterin, der er vertrauen konnte, und er schätzte mein Verhandlungsgeschick mit unseren Geschäftspartnern. Mit meiner Nachfolgerin hatte ihn das gleiche Schicksal ereilt wie mit mir – auch sie war nun schwanger und fiel gleich zu Beginn durch Probleme in der Schwangerschaft aus. Er suchte händeringend nach Ersatz, vor allem, da eine Einschulung durch die unerwartete Verhinderung meiner Nachfolgerin nicht möglich war.

Auch wenn es bei mir mittlerweile fast fünf Jahre her war, dass ich für ihn gearbeitet hatte, fühlte ich mich gefestigt genug, mich schnell wieder einzuarbeiten. Kurzum, das Angebot kam wie gerufen!

Zwei halbe Tage in der Woche sollte ich im Büro sein und einen dritten von zu Hause aus arbeiten. An den beiden Tagen auswärts organisierten wir eine Tagesmutter für Tamara für diese Zeit. Ihr Bruder war ohnehin im Kindergarten.

An dem Tag, wo ich zu Hause arbeitete, konnte ich mir die Zeit flexibel einteilen und so den Mittagsschlaf und die Spielzeit von Tamara nutzen. Oft machte ich die letzten Arbeiten noch abends, wenn die Kinder schon im Bett waren.

Die Zeit war anstrengend und zehrend und mehr als einmal wollte ich aufgeben. Meinem Mann gegenüber wollte ich das nicht eingestehen, denn er war nicht sonderlich begeistert gewesen, dass ich wieder arbeiten wollte. Er konnte es schlicht nicht nachvollziehen, dass ich mich auch nach Anerkennung sehnte und wieder in der Welt der Erwachsenen gebraucht werden wollte. Nicht nur Kinderbedürfnisse stillen.

Also biss ich die Zähne zusammen und arbeitete über meine Grenzen hinaus. An manchen Abenden schlich ich mich, als er schlief, sogar aus dem Bett und drehte nochmal den Laptop auf, um mich bestmöglich auf die nächsten Aufgaben oder Meetings vorzubereiten.

Natürlich ging es nicht lange Zeit gut, ich wurde fahriger, machte Fehler und wurde unzufrieden. Dennoch kämpfte ich um meine neue Aufgabe. Wenigstens mein Chef bemerkte meinen Eifer und Einsatz und lobte mich immer wieder dafür. Er war zufrieden, denn ich lieferte in den drei Tagen nahezu so viel wie früher, als ich Vollzeit angestellt war. Natürlich blieben ihm meine nächtlichen Überstunden verborgen, denn diese erwähnte ich ihm gegenüber nicht.

Nebel drängt ins Leben und will bleiben

Es war ein besonders düsterer Tag, als sich unser aller Leben drastisch verändern sollte. Es war wie ein Herbsttag mitten im Sommer, wie man ihn hasst. Düster, nebelig, nasskalt. Als hätte der Tag sich das Schicksal ausgesucht. Oder war es umgekehrt? Das Schicksal? Mein Schicksal. Unser Schicksal!

Sebastian war krank gewesen und noch einen letzten Tag zu Hause, bevor ich ihn wieder in den Kindergarten schicken wollte. Tamara war die ganze Woche schon furchtbar quengelig. Vermutlich nur eine Phase, doch alles zusammen war es sehr beschwerlich.

Gerade heute war noch dazu Wochenabschluss und mein Chef erwartete die Statistikzahlen alsbald von mir. Sebastian war mittlerweile fünf Jahre alt und ich bat ihn, auf seine Schwester ein bisschen aufzupassen, während ich arbeitete.

Und dann passierte es.

Ein dumpfer Aufprall. Nur langsam realisierte ich, was es gewesen sein konnte. Irgendetwas war aus dem Fenster gestürzt. Etwas war zu Boden gefallen und ich hatte den Aufprall wahrgenommen. Und sonst hörte ich nichts. Es war totenstill und sogar der Sekundenzeiger der Uhr schien in Zeitlupe zu verfallen.

Innerlich wollte ich nach draußen laufen, aber stattdessen ging ich zögerlich mit versteinerter Miene und weit aufgerissenen Augen zum Fenster, um nachzusehen.

Bevor ich noch zu ihr eilen konnte, wusste ich schon: Sie war tot.

Es war zu hoch und der Boden zu hart. Ihr kleiner, zarter Körper konnte so einen Sturz kaum überleben. Am Weg nach draußen nahm ich wahr, dass Sebastian auf der Toilette war. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er das Spielzimmer verlassen hatte.

Ich eilte zu meiner Tochter und brach neben ihr zusammen. Nachbarn kamen und kümmerten sich um meine Tochter und mich. Man konnte nichts mehr für sie tun, der Notarzt konnte schließlich nur noch ihren Tod feststellen.

Was dann passierte, geschah in Trance. Und in Trance sollte ich lange Zeit verharren. Tamara, mein geliebter Engel! Warum musstest du mich so früh verlassen? Diese Frage stellte ich mir immerzu. Die Antwort war ich. Weil ich Selbstverwirklichung wollte.

Mein Mann war außer sich. Er versuchte nicht eine Sekunde, mich zu trösten oder unseren Verlust gemeinsam durchzustehen. Meine Arbeit war ihm ein Dorn im Auge gewesen und aufgrund eben dieser Arbeit und meiner Unachtsamkeit war unsere Tochter nicht mehr bei uns.

Dass dies auch gerichtlich für mich Folgen haben könnte, war mir zwar zu Beginn nicht bewusst, aber nur recht. Ich gab mir ohnehin die Schuld an ihrem Tod und sehnte mich fast nach der Strafe. Ich gab alles zu. Ich hatte mich in meine Arbeit vergraben und nicht auf die Kinder geachtet. Noch dazu hatte ich das Fenster weit offenstehen gelassen und nicht auf den Sessel vorm Fenster geachtet.

Marlies war meine Anwältin. Sie war in Kindertagen meine beste Freundin gewesen, doch unsere Leben hatten sich auseinanderentwickelt und wir hatten den Zugang zueinander verloren. Durch den schrecklichen Unfall kamen wir wieder zusammen. Sie hatte es aus der Zeitung erfahren und sich sofort bei mir gemeldet, um meine Verteidigung zu übernehmen. Sie wollte mir helfen und ich ließ es geschehen, auch, weil ich für Abwehr keine Kraft hatte.

Vor einer Gefängnisstrafe konnte sie mich bewahren. Die trauernde Mutter hatte immerhin ihr Kind verloren und musste mit der Schuld zurechtkommen, offenbar reichte demnach eine Bewährungsstrafe.

Mein Mann nahm Sebastian zu sich. Ich war labil und froh darüber. In meinem Zustand hätte ich mich nicht um ihn kümmern können und wer weiß, was als Nächstes passiert wäre. Ich fühlte mich nicht mehr fähig, Verantwortung für ein Kind zu tragen.

Vogel, fall

Ich saß Tag für Tag allein in unserem Haus, das mir nur noch fremd war. Das Zimmer, aus dem Tamara in den Tod gestürzt war, hatte ich nie wieder betreten. Nur heute. Ich wollte es ihr gleichtun. Tablette um Tablette nehmen. Dann wollte ich mich auf das Fensterbrett setzen, bis ich fallen würde. Um endlich bei ihr zu sein und die Welt von mir und mich von der Trauer zu erlösen. Wie in Vogel ohne Flügel wollte ich herabfallen.

Die Wochen zuvor waren von Alkohol und Beruhigungstabletten geprägt. Marlies wollte für mich da sein und hörte mir zu. Aber meistens sprach ich wirres Zeug. Sehnte mich nach Tamara und meinem früheren Leben. Die Sehnsucht nach Vergeltung durch meinen Tod ließ ich unerwähnt – ich wollte eigenmächtig entscheiden, wann es so weit wäre und mich nicht davon abbringen lassen. Ich hatte ihren Geburtstag gewählt. Den sie nicht mehr erleben durfte, durch mein Verfehlen.

In einem der wirren Momente hatte ich Marlies davon erzählt, wie sorgfältig ich mich immer vergewissert hatte, dass alle Türen nach draußen versperrt und alle Fenster geschlossen waren. Tamara war noch zu klein, um ein Fenster zu öffnen und Sebastian wusste um die Gefahr, die von einem Fenster ausging. Der Sessel, der vor dem Fenster stand, war in einer Position, die bei genauerem Überlegen nahelegte, dass erst das Fenster geöffnet werden und dann der Sessel davorgeschoben werden musste.

Tief in mir wusste ich, dass ich das Fenster nicht offenstehen gelassen hatte, stundenlang, während meine kleine Tochter im Zimmer spielte. Während zwei kleine Kinder allein spielten.

Doch ich sprach es nicht aus. Ich konnte den Gedanken nie fertig denken.

Wenn der Neuanfang das junge Jahr küsst

Es war der erste Neujahrstag.

Der Beginn von meinem neuen Leben sollte es werden.

Ich war seit mittlerweile zwei Monaten in der Klinik.

Marlies kam zu Besuch. Sie stütze mich ein bisschen, mehr zum Schein, als dass es notwendig gewesen wäre.

Sie war zu meinem Felsen geworden.

An jenem Tag, als ich meinem Leben hatte ein Ende setzen wollen, hatte ich es nicht mehr zum Fenster geschafft. Statt aus dem Fenster, war ich in einen tiefen Schlaf gefallen und hatte durch die Dosis der Schlaftabletten das Bewusstsein verloren. Marlies hatte mich wie jeden Abend noch kurz sprechen wollen und als sie mich nicht erreichen konnte, war sie ihrem Bauchgefühl gefolgt und zu meinem Haus gefahren.

Das Licht im Todeszimmer, wie ich es nannte, mit dem geöffneten Fenster, am Geburtstag von Tamara, hatte alle Alarmsignale schrillen lassen. Sie hatte einen Zweitschlüssel und war zu mir gehastet. Der gerufene Notarzt und die Ärzte im Krankenhaus hatten mich gerade noch retten können.

Marlies hatte mir einen Therapeuten und eine Klinik empfohlen, in der ich wieder zu mir finden sollte. Nur langsam brach die Mauer rund um mich und ich begann über den Tag des Todes von Tamara zu sprechen.

Nun sollte auch ans Tageslicht kommen, dass vermutlich Sebastian im Spiel und seiner Neugier das Fenster geöffnet hatte. Anschließend hatte er den Sessel vor das Fenster geschoben und schließlich auf die Toilette gemusst. Zeit genug für meine neugierige Tochter, um auf den Sessel und das Fensterbrett zu klettern und in den Tod zu stürzen.

Neben dem Therapeuten wusste nur Marlies davon. Sie wollte mich überreden, mit Konrad darüber zu sprechen. Doch was hätte es gebracht? Der Mann war mir fremd geworden. In seiner Trauer hatte er sich im Augenblick des Verlustes von mir entfremdet. Auch wenn nicht ich unachtsam das Fenster offengelassen und den Sessel davor gestellt hatte. War es besser, dass mein Sohn dafür verantwortlich war? Er war doch auch erst fünf und hatte so ein Unglück nicht gewollt.

Die Schuld für den Tod meiner Tochter hatte sich verändert. Aber sie war nicht kleiner geworden. Ich hatte einem Fünfjährigen eine zu große Verantwortung übertragen, die er nicht erfüllen konnte. Ich hätte das wissen müssen. Ich wusste es. Doch mein Streben nach meinem Job war mir in dem Moment wichtiger gewesen.

Sebastian war etwas stiller geworden. Unser Verhältnis war dermaßen angespannt, dass es für uns beide unerträglich war. Ich war mir nicht klar, woran es lag. Ich fragte ihn nie nach dem Tag, an dem Tamara uns verließ. Ich wusste nicht, ob er sich bewusst war, das Fenster geöffnet zu haben, oder ob er es verdrängte. Ich hoffte, er würde es verdrängen.

Was würde es bringen, wenn er sich Vorwürfe machte? Die Verantwortung lag dennoch bei mir.

Auch seine Ablehnung war für mich der Hinweis auf die gerechte Strafe, wenn sie mir der Richter schon nicht hatte geben wollen.

Ich hatte meine Tasche gepackt und Marlies half mir beim Verstauen der letzten Habseligkeiten.

Bewusst hatte ich mir den ersten Tag im neuen Jahr ausgesucht. Ich wollte alles hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen. Ich suchte nach einer Aufgabe, meinem Leben einen Sinn zu geben und meine Schuld abzubauen.

Auch wenn mein Therapeut nicht meiner Meinung war, war ich überzeugt, nur so wäre meine Schuld abzutragen.

Der Versuch, sich aus dem Leben zu stehlen, wäre ohnehin zu billig gewesen.

Marlies hatte mir ihre Einliegerwohnung zur Verfügung gestellt. Sie war schlicht eingerichtet, aber ich hatte alles, was ich brauchte. Ich lag im Bett und hörte das Neujahrskonzert. Morgen wollte ich zum Grab von Tamara. Seit der Beerdigung hatte ich es nicht geschafft, sie zu besuchen.

Marlies hatte angeboten mich zu begleiten, aber ich musste allein dort hin.

Ich wollte mit dem neuen Jahr mein Leben wieder ordnen. Zuerst wollte ich mich der Trauer stellen. Noch einmal, mit Abstand, von Tamara verabschieden und mich entschuldigen, dass ich nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte. Ich wollte sie um Verzeihung bitten, dass sie durch mein Verschulden nicht heranwachsen durfte.

Mein Plan war mit meinem Therapeuten abgesprochen und ich sollte mir viel Zeit nehmen. Wenn ich die Trauer und den Verlust verarbeitet hatte, wollte ich versuchen, wieder den Kontakt zu Sebastian aufzubauen. Er war mein Sohn und wir waren uns so fremd geworden. Ich wollte um ihn kämpfen und ihn nicht auch noch verlieren.

Hoffnung

Eine Fügung des Schicksals sollte uns früher näherbringen. Näher, als ich es gewollt hätte.

Mein Mann hatte eine unerwartete kurzfristige Operation und in der Kürze der Zeit war niemand anderer für die Betreuung aufzutreiben, sodass ich Sebastian zu mir nehmen sollte. Hätte Konrad gekonnt, hätte er das sicher verhindert, denn für ihn war ich nicht mehr geeignet, auf Kinder aufzupassen.

Ich fühlte mich ebenfalls überfordert, da es für mich noch zu früh für uns schien. Sebastian war zurückhaltend geworden und launisch. Er war unfreundlich zu mir und zeigte keinerlei Respekt. Ich wusste nicht, was er von mir hielt und was ihm all die Zeit für ein Bild über mich vermittelt wurde. Es schien kein gutes zu sein.

In der Einliegerwohnung war wenig Platz, sodass Sebastian in meinem Bett und ich auf der Couch im selben Zimmer schlief. Durch die Enge des Raumes waren wir stärker aneinander gebunden, als uns lieb war, aber so kamen wir uns schließlich doch nach einigen Tagen schon etwas näher. Sebastian schien, fern von zu Hause, aufzutauen, aber dennoch war ein Graben zwischen uns spürbar. Irgendetwas war da, das zwischen uns stand.

Ich vermutete, dass Konrad viel über mich erzählt und mich nicht geschont hatte. Es lag mir fern, Sebastian eine bessere Sicht von mir zu vermitteln, ich konnte mir schließlich ebenso nicht verzeihen. Es war ein Wechselbad der Gefühle. Meist verhielten wir uns neutral, als wäre ich eine Nachbarin, die auf ihn aufpasst. Dann wieder reagierte er bei Kleinigkeiten wütend und rastete förmlich aus. Anschließend fiel er in sich zusammen und krümmte sich in eine Ecke und weinte.

Trösten lassen wollte er sich nicht von mir, die Distanz war noch zu groß.

Mit den Tagen wurde unser Umgang vertrauter und ich erzählte Marlies, wie mich diese Entwicklung freute. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung?

Bald sollte Konrad wieder nach Hause kommen. Im Krankenhaus hatte er versucht, mir den Umgang mit Sebastian zu verbieten, aber noch war es ihm nicht gelungen. Immerhin hatte ich kein Kontaktverbot zu meinem Sohn.

Endlich hatte ich wieder durchschlafen können. Die Nähe zu meinem Sohn tröstete mich mehr, als mir lieb war, und ich fürchtete mich riesig vor der Zeit, wenn er mir wieder genommen werden würde.

Da war so eine Art von Hoffnung in der Luft. Das erste Mal seit dem Entlassungstag im neuen Jahr aus der Klinik war da Zuversicht. Vielleicht wurde doch alles gut. Später würde ich Marlies bitten, mich zu beraten, wie ich ein Umgangsrecht mit meinem Sohn erwirken könnte.

In der letzten Nacht, bevor Konrad wieder heimkommen sollte, schlief ich bei Sebastian im Bett. Er kuschelte sich an mich und ich genoss seine Nähe. Ich wollte keine Sekunde schlafen. Ich wusste nicht, wie es weitergehen würde und ob es mir gelingen würde, mein Kind künftig regelmäßig sehen zu können. Sebastian war rastlos und fand nicht in den Schlaf. Ich stellte mich schlafend und hoffte, er würde bald zur Ruhe kommen. Nicht, dass er unausgeschlafen zurück zu seinem Vater kam.

Morgen würde ich mit Marlies sprechen.
Ich würde mir meinen Sohn zurückkämpfen.

Sebastian dachte wohl, ich schlafe. Das leise Hochgefühl, das ich verspürt hatte, verschwand augenblicklich und ich erstarrte, als er mir leise zuflüsterte: „Tut mir leid, Mama, aber ich wollte nicht, dass sie mir immer meine Türme zerstört, darum habe ich das Fenster aufgemacht und sie auf den Sessel gehoben.“

Und all meine Hoffnung auf einen Neubeginn war verloren.